Die Verhältnisse zum Tanzen bringen

Michael Stoeber

Debora Kim ist studierte Malerin. Aber die Arbeit mit Pinsel und Farbe hat ihr auf Dauer nicht genügt. Die Malerei war ihr per definitionem trotz eines möglichen Atems der Bilder, eines Push and Pull der Farbe auf der Fläche der Leinwand, zu unkörperlich. Und Raum, den die Malerei durch perspektivische Simulation in illusionistischer Manier herstellt, war schon gar keine Option für sie. Da hält sie es ganz und gar mit dem Theoretiker der New York School, Clement Greenberg, der – „Make it flat! – um eines Ethos der Wahrhaftigkeit willen den Künstlern empfahl, auf der Fläche zu bleiben und den zwei Dimensionen des Bildträgers zu folgen. Das führt indes dazu, dass der Raum in einer solchen Malerei quasi inexistent ist. Die Künstler der Combine Paintings wie Robert Rauschenberg holten ihn daher ganz konkret ins Bild zurück, indem sie Alltagsgegenstände in ihre Malerei montierten.

Debora Kim löst das Problem in anderer Weise. Sie nutzt als Bildträger in der Regel stereometrische Körper, vorzugsweise Quader und Kuben, und umwickelt sie mit farbigen Fäden. Die textilen Fäden, die sie an Stelle der Farbe benutzt, haben an sich schon eine andere Materialität als Pigmente. In ihrer Stofflichkeit prononcieren sie wie die Volumina der Bildträger das Objekthafte von Kims Werken. Und selbst, wenn sie nicht an der Wand lehnen und frei im Raum stehen oder schweben, sondern an der Wand hängen, sind Kims Bildträger aus Holz oder MDF dreidimensional. Ihre Tiefe ist viel stärker als bei traditionellen Leinwänden. Die Künstlerin betont diesen Charakter ihrer Werke, indem sie alle unterschiedslos als „Körper“ bezeichnet.

Ihre Ausstellung in Braunschweig nennt Debora Kim ebenso stolz wie bescheiden „Hier und Jetzt“. Der Titel erinnert an das berühmte Hic et Nunc der Antike, an die Philosophie Senecas, seine „Epistulae morales“, die sich ganz auf das Leben im Hier und Jetzt und auf dessen Bewältigung richten. Mit diesem Motto intoniert die Künstlerin, dass es in ihrer Kunst nicht um ein bloßes L’art pour l’art geht, um zeitlose universelle Formen und eine zeitgemäße malerische Rhetorik, sondern dass Kim mit ihrem Werk auch unsere ganz alltägliche Lebenspraxis im Blick hat. Auf Ersteres könnte man kommen, wenn man sich primär auf die geometrischen Figuren in ihrer Kunst konzentriert. Sie erinnern an die Ideenlehre Platons, der solche stereometrischen Körper als reine Ideen, die vor jeder Erfahrung, also a priori, existieren, als ewig, unvergänglich und unwandelbar in seinen Denkkosmos aufnahm.

Als solche wandern die geometrischen Formen nicht nur durch die Philosophiegeschichte, sondern als Ausdruck von Maß und Zahl, Symmetrie und Proportion auch durch die Kunstgeschichte. Bestes Beispiel dafür ist vielleicht der homo vitruvianus, der vitruvianische Mensch, den Leonardo da Vinci in Kreis und Quadrat eingeschrieben hat. Von der Antike reisen diese Formen in die Renaissance, den Klassizismus und die Moderne. Dort beherrschen sie, vor allem mit dem Schwarzen Quadrat von Kasimir Malewitsch, den Suprematismus und mit dem Glücksversprechen des rechten Winkels das Bauhaus und die De Stijl-Bewegung. Für Piet Mondrian ist die Vertikale der Mensch, die Horizontale die Welt. Ihre vorläufig letzte Ausprägung erhalten die geometrischen Figuren als Ideenkunst in den strengen, puristischen und reduzierten Formen der amerikanischen Minimal Art.

Von Donald Judd, dem eminenten Künstler und klugen Theoretiker der Minimal-Bewegung stammt das kanonische Urteil: „Es braucht eine Art Urmeter in der Kunst; sonst ist alles nur Show und Getue.“ Auf der Suche nach ultimativen ästhetischen Formen und Formeln in der Kunst hat sich die Minimal Art der Geometrie zugewandt – in streng kognitiver Weise. Das tut auch Debora Kim. Nicht nur ihre Bildträger, Quader und Kuben, sind konstruktiv, auch ihre Malerei aus Garn, horizontale und vertikale Formen und Streifen, ist es. Aber die kartesianischen Strukturen der Minimal Art konterkariert sie durch geradezu irrlichternde Verwirrspiele. Deren Plan setzt sie den Zufall, deren Kalkül die Spontaneität subjektiver Setzung entgegen.

Das macht bereits ein Hauptwerk der Ausstellung deutlich: ihre Wand aus schwarzweißen vertikalen Klebestreifen unterschiedlichen Formats, die sich wie ein monumentaler, elektronisch lesbarer Strich- oder Barcode scheinbar endlos fortsetzt. Fünf solcher Streifen verbinden sich zu einem Modul, das dann im Folgenden von der Künstlerin variiert wird. Man denkt an Permutationen, linguistische Verschränkungen und Verschiebungen, wie man sie aus experimentellen Texten kennt, die in ihrer Verkehrung einem erkennbar wiederkehrenden Dispositiv folgen. Aber das ist hier nicht auszumachen. Wenn eine literarische Referenz taugt, dann findet man sie eher in den arbiträren Wortspielen des Dadaismus. Aber die sind erkennbar von so anarchischer Natur, dass der Verweis auch nicht passt. Debora Kims Zusammenspiel von planvoller Setzung und lustvoller Zersetzung, von Chaos und Kosmos, ist von überwältigender Schönheit und Überzeugungskraft und spiegelt zugleich in hervorragender Weise die menschliche Natur.

Das Spiel von Plan und Zufall, in Verweis auf Pierre Carlet de Marivaux möchte man eher von Liebe und Zufall sprechen, wiederholt sich bei Kims Armada aus schlanken, rechtwinkligen an die Wand gelehnten Stäben, die auf allen Seiten mit farbigen Quadraten so bedeckt sind, dass man meinen möchte, sie bauten sich aus Kuben auf. Die Farben, blau, rot, gelb, grün und weitere, tauchen immer wieder auf, aber sie verteilen sich bei jedem Werk in neuer Weise. Nicht anders bei Debora Kims imponierender Wand aus 360 Werken, alle im Format von 15 cm x 10,5 cm x 1,4 cm.  Die Verteilung der Farben folgt hier nicht nur einem sich bei jedem Objekt oder „Körper“ ändernden Dispositiv, auch die Anzahl der Farben ändert sich von Bildobjekt zu Bildobjekt. Der Gesamteindruck ist von strahlender Sinnlichkeit. Ein steter Wechsel im Gleichen, der Freude bereitet. Variatio delectat.

Dass Kim dabei erzählen will, und zwar von uns, vom Menschen in jedem ihrer Werke, wird deutlich, wenn man der Farbbewegung ihrer Installation von rechts nach links gegen die Leserichtung folgt. Sie markiert eine Bewegung vom Dunkeln ins Helle, sozusagen per aspera ad astra, vom Dunkeln ins Licht. In den Optimismus. Oder wenn man umgekehrt in Leserichtung schaut, in die Dystopie. Selbst die beiden großen Säulen, gleichfalls imponierende Werke, die frei in der Mitte des Raumes stehen, vom Boden bis zur Decke reichen und in ihrer Verteilung schwarzweißer Streifen einerseits und farbiger Streifen andererseits scheinbar stets ein und dieselbe Form wiederholen, variieren diese bei genauer Inspektion in subtiler Weise.

Vier andere Stelen unterscheiden sich nicht nur farblich, sondern auch in der Art, wie Debora Kim den Faden geknüpft hat, der sich um sie schlingt. Er reißt das monochrome Erscheinungsbild auf und lässt einmal mehr Licht und Dunkel, aber auch in Bildgrund und Bildfigur einen Protagonisten und Antagonisten erkennen. Das Mit- und Gegeneinander der Fäden schafft nicht nur Ähnlichkeit und Kontrast, sondern aus der widersprüchlichen Struktur der Werke heraus auch Dialog und Spannung. Ein schlanker Stab ist ein Unikat. Indem er als kühne Diagonale im Raum schwebt, setzt er sich in Widerspruch zur orthogonalen Setzung der anderen Exponate. Eine einem Schachspiel nachempfundene Installation aus wunderbar zarten roten und pinkfarben Kuben schafft eine ebenso puristische wie fabelhaft fantastische Stadtlandschaft. Dass Kim in ihrem Herzen auch noch ganz traditionell Malerin ist, machen in ihrer Nachbarschaft die zarten Aquarelle der Künstlerin deutlich in denen sie ihre Körper zurück auf die Fläche bringt und sie „Kompositionen“ nennt.

Immer erzählen die Werke der Künstlerin zwischen Malerei und Skulptur, specific objects in der Terminologie von Donald Judd, vom Menschen. Sie tun es in hervorragender Weise auch, wenn man im Zusammenhang mit ihnen an einen alten Renaissancestreit denkt, was in der Malerei Vorrang habe sollte: Farbe oder Linie, coloriti oder disegno? Die Venezianer hatten Maler in ihrer Stadt wie Tizian und Veronese, nach denen Farben benannt wurden. Sie votierten für die coloriti. Die Florentiner hatten Maler, die die Zentralperspektive erfunden und die riesige Kuppel ihres Doms konstruiert hatten. Sie sprachen sich für die Linie aus. Das war schon damals mehr als ein nur akademischer Streit. Da ging es auch um eine bestimmte Wahrnehmung von Welt und Wirklichkeit. Die Welt im Kleid ihrer Farbigkeit zu betrachten heißt, sie durch das Prisma des Gefühls zu sehen. Emotional! Sie über die Linie zu erfassen heißt, sie more geometrico zu erfassen. Rational!

Debora Kims Kunst dagegen tut beides. Ihre Werke sind ebenso rational und geometrisch wie emotional und subjektiv. Insofern sind sie Kopf und Körper zugleich. Maß und Zahl und Zufall und Kontingenz gehen in ihnen eine unwiderstehliche Symbiose ein. Sie sind vernünftig und irrlichternd, ordentlich und fantastisch, regelkonform und anarchisch. Zugleich unglaublich präzise und wunderbar sinnlich. Von Karl Marx, dem strengen Kritiker sozialer Klassen und dem poetischen Träumer von einer besseren Welt als der, in der er selbst lebte, stammt die schöne Empfehlung, man solle den Verhältnissen ihre ureigene Melodie vorspielen, um sie zum Tanzen zu bringen. Genau das tut Debora Kim. Sie erinnert uns in ihren Werken daran, wer und wie wir eigentlich sind oder – besser – sein sollten. In der Hoffnung, dass wir dabei das Tanzen lernen. Schauen wir ihre Werke so an, wie sie es verdienen, besteht diese Chance.

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