Form und Kontemplation

Dr. Stephan Malaka

Im Jahr 1915 zeigt Kasimir Malewitsch im Petersburger Kunstsalon Dobytschina jenes Bild, das ihn mit einem Schlag zum Primas der Abstraktion macht: das legendäre schwarze Quadrat. 

Mit dem schwarzen Quadrat verabschiedet sich Malewitsch radikal vom wichtigsten bis dato verpflichtenden Gebot in der bildenden Kunst: dem seit der Antike gültigen Gebot der Naturnachahmung, der mimesis. „ Die Dinge“, so Malewitsch, „sind verschwunden wie der Rauch.“ Das Fenster in eine gegenstandslose Welt ist aufgestoßen.

Das schwarze Quadrat kennt nurmehr die reine Form, die losgelöst ist von traditionellen Bedeutungen. Als Urform einer neuen Kunstreligion, nämlich des Suprematismus, beansprucht das schwarze Quadrat den Nimbus des Sakralen: Das Fenster ins Unsichtbare öffnet sich nur in der Kontemplation, durch ein geistiges Sichversenken, das weithin losgelöst ist von allen materiellen Konditionen. 

Debora Kim ererbt den Anspruch der Abstraktion; in Ihren Arbeiten erweckt sie das Ideal einer gegenstandslosen Welt aufs Neue. 

Aristoteles bestimmt die Dinge als die durch die Form zur Erscheinung gebrachte Materie. Um ins Sein zu treten bedarf der Urstoff, die Materia prima, eines gestaltenden Prinzips; sie bedarf der Form als des geistigen Prinzips, ohne die sie nichts ist. Die Form hingegen führt eine eigenständige Existenz. Sie bedarf des Stoffes lediglich, um sich zu manifestieren. Im Hieros gamos von Stoff und Form tritt die Form dinghaft in Erscheinung. Die Darstellung der reinen Form als Ideal jeglicher Abstraktion beschwört die reine Geistigkeit als Urquell jeglichen Seins.

Debora Kims Schöpfungen stehen in der Tradition der reinen Form. Sie beschwören das Ideal der reinen, weil unbedingten Geistigkeit und sie resultieren aus dem Glauben, dass diese darstellbar ist. Die handwerkliche Perfektion der Arbeiten Debora Kims ist die Conditio sine qua non, um die reine Geistigkeit stofflich zur Erscheinung zu bringen.

Der reinen Form ist einzig die bedingungslose Anschauung adäquat. Die reine Form lässt sich nicht begreifen, sie entzieht sich der Vereinnahmung durch den beschränkten menschlichen Intellekt, weil sie mit der Unbeschränktheit des Geistes identisch ist. Die reine Form fordert die unbedingte Hingabe an die reine Anschauung, sie fordert die Kontemplation. 

Innerhalb der Mystik steht die Kontemplation im Zentrum religiösen Handelns: Die Versenkung in die Werke Gottes, die geistige Schau, die Hinwendung zum Übersinnlichen führen den Gläubigen zur Unio mystica, zur unmittelbaren Vereinigung mit dem Göttlichen. 

Die reine Form leitet an zur Schau des Geistigen, indem sie den Betrachter in dessen Gefilde entführt. Die Form des Dialogs, der sich zwischen Betrachter und reiner Form entspinnt, ist die der Litanei. Als ein endloses Wiederholen des immer Gleichen führt die Litanei zu einem unterschiedslosen Bewusstseins- und Empfindungszustand, zur Kontemplation, zur Unio mystica. 

In den endlosen Wicklungen der Garne überträgt Debora Kim das Prinzip der Litanei in die Kunst, indem sie es im Schöpfungsakt zelebriert. Das Produkt des aus dem Prinzip der Litanei geborenen kontemplativen Schöpfungsaktes ist die reine Form.

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