Umgarnung des Konkreten. Debora Kim zwischen Formel und Freiheit

Dr. Rainer Beßling

Geometrische und stereometrische Grundformen, eine vom Lokalkolorit befreite Farbe, eine Kunst, die nichts weiter vorgibt zu sein als zu sehen ist: Form, Farbe, Material, Objekt, Raum. Die Arbeiten Debora Kims reihen sich auf den ersten Blick in Konkrete Kunst und Minimal Art ein. Das heißt aber nicht, dass die Künstlerin bruchlos und vollends in Geschichte gewordene Stilbegriffe eingeordnet werden kann. Vielmehr führt sie ein künstlerisches Konzept fort, das rund ein Jahrhundert lang zahlreiche Varianten hervorgerufen hat und weiterträgt, und reichert es mit ihrer persönlichen ästhetischen Grundhaltung und Strategie an. „Personal Structures“ heißt deshalb nicht ohne Grund diese Ausstellung. Subjektives und Objektives treten in ein Wechselspiel. Die Künstlerin stellt insbesondere durch ihre außergewöhnliche Materialwahl historischen Kategorien der Konkreten und Minimalistischen Kunst eine explizit eigene Position gegenüber.

Hilfreich für das Verständnis von Debora Kims Kunst ist es, sich die theoretischen Fundamente ihrer Vorläufer zu vergegenwärtigen.

Einer der wichtigsten frühen Repräsentanten der Konkreten Kunst, Max Bill, schrieb: „Konkrete Kunst nennen wir jene Kunstwerke, die aufgrund ihrer ureigenen Mittel und Gesetzmäßigkeiten – ohne äußerliche Anlehnung an Naturerscheinungen oder deren Transformierung, also nicht durch Abstraktion entstanden sind. Konkrete Kunst ist in ihrer Eigenart selbstständig. Sie ist der Ausdruck des menschlichen Geistes, für den menschlichen Geist bestimmt, und sie sei von jener Schärfe, Eindeutigkeit und Vollkommenheit, wie dies von Werken des menschlichen Geistes erwartet werden muss. Konkrete Malerei und Plastik ist die Gestaltung von optisch Wahrnehmbarem. Ihre Gestaltungsmittel sind die Farben, der Raum, das Licht und die Bewegung. Durch die Formung dieser Elemente entstehen neue Realitäten. Vorher nur in der Vorstellung bestehende abstrakte Ideen werden in konkreter Form sichtbar gemacht. Konkrete Kunst ist in ihrer letzten Konsequenz der reine Ausdruck von harmonischem Maß und Gesetz. Sie ordnet Systeme und gibt mit künstlerischen Mitteln diesen Ordnungen das Leben. Sie ist real und geistig, nicht naturalistisch und dennoch naturnah. Sie erstrebt das Universelle und pflegt dennoch das Einmalige, sie drängt das Individualistische zurück, zugunsten des Individuums.“ Theo van Doesburg formulierte in seinem berühmt gewordenen Manifest: „Das Kunstwerk muss vor seiner Ausführung vollständig im Geist entworfen und ausgestaltet sein. Von der Natur, von Sinnlichkeit oder Gefühl vorgegebene Formen darf es nicht enthalten. Lyrik, Dramatik, Symbolismus usw. sind zu vermeiden. Das Gemälde muss ausschließlich aus rein bildnerischen Elementen konstruiert werden, d.h. aus Flächen und Farben. Ein Bildelement bedeutet nichts anderes als ,sich selbst‘, folglich bedeutet auch das Gemälde nichts anderes als ,sich selbst‘. Die Konstruktion des Gemäldes und seiner Elemente muss einfach und visuell überprüfbar sein. Die Technik muss mechanisch sein.“

Was die Gründungsväter der Konkreten Kunst vereint hat, war neben einer Übersättigung durch das Angebot an Abbildern am Ende der Romantik eine fundamentale Skepsis gegenüber der wahrnehmbaren Welt. Zugleich suchten sie gemeinsam nach übergeordneten Gesetzmäßigkeiten. Den Künstler verstanden sie als Erforscher von Regeln und Systemen. Sie sahen ihn nicht an eine subjektive Ausdrucksform gebunden, erst recht nicht einer auratisch umrankten Selbstverwirklichung und einem mystischen Schöpfungsakt verpflichtet. In Debora Kims Kunst lassen sich zahlreiche der in den obigen Zitaten angesprochenen Kategorien und Postulate wiederfinden. Sie geht nicht auf erlebte Situationen und gesehene Momente zurück, sondern beruht auf reinem Kalkül. Die Künstlerin stellt Berechnungen an, schafft Formeln, nach denen sie ihre Werke aufbaut und gestaltet. Sie sucht nach Maßen und organisiert Maßverhältnisse, nimmt Dimension und Proportion in den Blick. Und doch ist neben dem Kalkül auch die Lust am freien kombinatorischen Spiel spürbar. Neben dem universellen Gesetz ist die ästhetische Freiheit erkennbar, die durchgängig ihre künstlerische Arbeit prägt. Was ein Kunsthistoriker über den US-amerikanischen Maler Ad Reinhardt gesagt hat, lässt sich auch für Debora Kim formulieren: Er suchte bildnerisch durch eine Reduzierung der Bilddaten nach einer Malerei, die die genaueste Formel für die größte künstlerische Freiheit abgab, nach dem äußerst unpersönlichen Weg für das wirklich Persönliche, nach der umfassendsten Kontrolle für die reinste Spontaneität.

Zwei Stelen sind aus Modulen aufgebaut. Es zeigt sich eine Kombination einmal in den Nichtfarben schwarz und weiß und dann in einer Palette aus rot, pink, gelb, orange und blau. Die Farben werden häufig mit dem Herkunftsland der Künstlerin, mit Korea, in Verbindung gebracht. Tatsächlich herrscht ein bestimmtes Kolorit im Werk von Debora Kim vor, das offenbar tief in der Persönlichkeit der Künstlerin wurzelt. In ihren immer wieder neuen Konstellationen präsentieren sich die Farben mit jeweils unterschiedlichen Ausdruckswerten und Klängen. Farbe ist nicht absolut zu setzen, sondern ist abhängig einerseits von der Form und andererseits von der Nachbarfarbe. Josef Albers war einer der ersten, der mit seinen gleichbleibenden rechteckigen Formen immer wieder neue Farbkombinationen bildete und dabei systematisch den Zusammenklang unterschiedlichen Kolorits untersuchte. Auch Debora Kim ordnet Farben mit unterschiedlicher Ausdrucksrichtung an. Manche wirken mehr nach innen, manche strahlen stärker nach außen ab. Immer neue Anordnungen schaffen in den Tableaus immer neue Farbakkorde, wobei die Kombination in Reihen oder in Blöcken unterschiedliche Zusammenklänge hervorruft. In Blöcken angeordnet sorgen gleich mehrere benachbarte differierende Feldformationen und Farben für ein komplexes und bewegtes Gesamtbild.

Wie ist Debora Kim zu der Kunst gelangt, die sie heute ausübt? Die Künstlerin hat in früheren Epochen ihres Schaffens figurativ gearbeitet und dabei Alltagsbeobachtungen zeichnerisch fixiert. Entstanden ist dabei eine Art grafisches Tagebuch. Zudem praktizierte sie eine Malerei, in der die Unschärfe dominierte. Hinter dunstigen Schleiern verbarg sich kaum erkennbar ein Objekt. Das Motiv war in einem vernebelten Farbraum nahezu verschwunden. Von solcher Malerei zu einer ungegenständlichen Kunst, wie sie die Künstlerin heute betreibt, ist es nur noch ein kurzer Weg. Ein wichtiger Anstoß für Debora Kim, nach dem Verlassen der Gegenständlichkeit zum Garn als Werkstoff zu greifen, war die Abwendung von der illusionären Räumlichkeit. Sie wollte nicht länger auf der malerischen Fläche einen Tiefenraum simulieren, vielmehr suchte sie nach einem Material, das den Arbeiten von Beginn an einen Objektcharakter verlieh. Mit diesem Stoff schaltete sie zugleich die individuelle physische Handschrift aus und setzte dabei den rein subjektiven Ausdruck außer Kraft. Ihre Arbeiten thematisieren nicht zuletzt auch Wahrnehmung selbst, sie organisieren ein bestimmtes Verhältnis des Betrachters zum Bildgegenstand. Der Rezipient wird in die Wahrnehmung als in ein prozessuales, dynamisches Verhältnis hineingenommen. Der Standpunkt des Betrachters, sein Platz im Raum, auf den die Arbeiten hin organisiert sind, spielt bei der Rezeption eine bedeutende Rolle. Das Ergebnis seines Sehens ändert sich je nach dem Ort, den er einnimmt. So wie das Objekt mit dem Raum korrespondiert, spielen Objekt und Raum auch mit dem Betrachter zusammen. Jedes Bild repräsentiert eine eigene Farb-Form-Einheit, die sich darüber hinaus in jedem einzelnen Raum mit den benachbarten Werken zur räumlichen Konstellation verbindet. Debora Kim arbeitet neben ihren Farbfeldern auch eher zeichnerisch mit dem Garn. Hierbei entstehen skripturale Anordnungen, die in ihrer spontan anmutenden Kalligraphie eine große haptische Ausstrahlung gewinnen. Der Faden stellt sich wie ein verschlungenes und verrätseltes Schriftband dar. Verwandtschaft zu Schriftlichem, genauer gesagt zu einer bestimmten Matrix, haben auch ihre schwarz-weißen Flächen- beziehungsweise Kubenanordnungen, die wie ein Barcode wirken. 

Die Systematik, der überschaubare Regelapparat, nach dem die Künstlerin ihre Arbeiten organisiert, entspringt nicht zuletzt ihrem Bedürfnis nach Ruhe, nach einer visuellen Beruhigung aber auch nach tiefem meditativem Innehalten. Erst die Ruhe, mit der sie ihre Werke anlegt und in die sie ihre Werke taucht, ermöglicht ihr Konzentration und gedankliche Vertiefung. Das begrenzte Formenrepertoire und die klaren Ordnungen schaffen ein Fundament für Kontemplation und einen Raum aus Ruhe. Auch die Wiederholung von Grundformen und Grundfarben sensibilisiert die Sinne für die Variationen. Die Differenz als Signet einer bestimmten Eigenart vermittelt sich erst in der minimalen Abweichung. In einem Diptychon unterscheiden sich die beiden Bildtafeln durch den Verlauf des Fadens. Einmal verläuft das Garn vertikal, einmal horizontal. Zum einen erzeugt diese Anordnung des Garns eine fundamentale Spannung, so wie sie in vielen Bildwerken ein entsprechender Verlauf der Lineatur schafft. Zum anderen lässt die Anordnung auch an verschiedene Bildgenres denken. Ein horizontaler Fadenverlauf weckt eher die Assoziation an eine Landschaft, während ein vertikaler Verlauf eher an ein Porträt denken lässt. Wir sehen an diesem Beispiel, dass es der Künstlerin gelingt, die Kunst auf ihre Grundtatsachen zurückzuführen und unser Sehen auf fundamentale Ereignisse hin auszurichten. Gleichzeitig öffnet sie den Blick für vielfältige Assoziationen. Ganz unabhängig davon bewirkt diese spannungsvolle Gegenüberstellung verschiedener Linienverläufe ein tiefes ästhetisches Erleben, das über das reine Sehen hinausgeht. Wenn man so will, wird der Betrachter mit zwei grundsätzlich unterschiedlich organisierten Anschauungen konfrontiert, wobei jeder auch ein eigenes unterschiedliches dynamisches Potenzial innewohnt. Als eine zentrale Eigenart von Debora Kims Kunst ist das Spannungsverhältnis zwischen Form und Material anzusehen. Der strengen kalkulierten, wenn man so will kühlen und glatten Form steht eine weiche schmiegsame Oberfläche gegenüber. Damit unterscheidet sich die Künstlerin von den Klassikern der Konkreten Kunst und der Minimal Art, die in der Einheit von Farbe und Form auf glatte Oberflächen und häufig industriell gefertigte Materialien gesetzt haben. In Debora Kims Kunst werden bei der Verwendung von Garn die spezifischen Objekte zu Farbkörpern mit einer geradezu organischen Haut, die freilich nichts an der strengen stereometrischen Grundform der Tafeln, Kuben und Stelen ändert. Man kann vermuten, dass die Künstlerin ihre Objekte über das reine intellektuelle Kalkül hinaus heben will. Bei aller Faszination für die Schönheit mathematischer Formeln und Gesetze stellt sie dieser Ästhetik eine Anmutung zur Seite, die einer ganzheitlichen körperhaft-sinnlichen Empfindungswelt verpflichtet bleibt. 

Die Künstlerin geht auf zwei unterschiedliche Arten mit dem Material um. Auf eine Weise arbeitet sie mit dem Material, lässt es also stofflich adäquat zu sich selbst kommen. Durch Verwendung des Garns zur Umwicklung schränkt sie bewusst die möglichen Verlaufsrichtungen auf die Horizontale und Vertikale ein. Andererseits arbeitet sie quasi gegen das Material. Sie unterwirft es ihrem eigenen persönlichen Ausdruckswillen, besser gesagt richtet sie es nach der von ihr beabsichtigten Wirkung aus und lässt das Garn an den Oberflächen ihrer Farbkörper als strenge Lineatur nahezu verschwinden. In der Bilanz dieser Reibungsenergie kommt die Künstlerin zu einem äußerst stimmigen und beeindruckenden Ergebnis. Der Betrachter gelangt angesichts von Debora Kims Kunst sinnlich und gedanklich in eine andere Welt. Woran liegt das? Einerseits weckt die stoffliche Oberfläche die Sinne, man möchte die Objekte gerne anfassen, was sicher damit zu tun hat, dass wir mit dem Garn etwas Textiles verbinden und sich bei manchen Menschen angesichts eines Stoffes gleich der Tastsinn regt beziehungsweise das Empfinden des Eingehülltseins. Andererseits setzen die Arbeiten aber auch gedankliche oder besser vielleicht noch spirituelle Kräfte frei. Zu einigen Farbtafeln ließe sich ein Text heranziehen, den eine Kunstkritikerin einmal in Bezug auf die Bilder von Ad Reinhardt formuliert hat. „Obgleich diese Bilder dem Auge die erwartete Befriedigung versagen, wird die Aufmerksamkeit fixiert und wachgehalten. Das Bewusstsein, befreit von der Anregung komplexer Stimulantien der Wahrnehmung, wird eigenartig in der Schwebe gehalten, abstrahiert. Das Selbstbewusstsein ebbt ab; der Betrachter wird, im wörtlichen Sinn, durchdrungen. Das bedeutet nicht Verlust des Bewusstseins und unterscheidet sich von reiner Kontemplation, da es auf eine erfahrbare Realität – das Bild – bezogen ist. Die Erfahrung wird verlängert, wachgehalten, erhöht durch unerwartete Nachbilder, Flimmern von Licht und räumlicher Bewegung. Der Effekt ist faszinierend, hypnotisch, man hat das Gefühl, in sie gezogen zu werden, ein Gefühl der Entkörperlichung.“

Debora Kim arbeitet in Serien. Bei ihren großen Tableaus ist nicht nur das Einzelwerk von Bedeutung, sondern die Gesamtorganisation, die zugleich mehr ist als die Summe der Einzelteile. Die Künstlerin legt eine Grundform fest, setzt eine bestimmte Anzahl von Grundfarben und Grundflächen, die sie dann nach einer bestimmten Formel regelhaft aufbaut und variiert. Bei der Arbeit setzt sie diese Variation Schritt für Schritt um, so dass sich die Gesetzmäßigkeit leicht erschließen ließe. Bei der Präsentation allerdings organisiert sie die Einzelteile anders, die Ordnung des Aufbaus ist nicht so leicht und unmittelbar zu erkennen. Der Betrachter wird unter anderem auch in die Rolle eines Forschenden versetzt, der die Systematik zu erkunden sucht. Der Raum zwischen den einzelnen Arbeiten, die Vielfalt der möglichen Anordnungen wird Teil des Objekts und Teil der Wahrnehmung. Bewegung und der Faktor Zeit kommen mit ins Spiel. Das leichte Flirren, das dadurch entsteht, dass sich das Licht an der Baumwolltextur vielfach bricht, führt zu einem dynamischen Oberflächenereignis. Die besondere Nachbarschaft von Streifen produziert in manchen Bildern ein Flimmern, das an Arbeiten der Op-Art erinnert. Das Werk in Debora Kims originärem Kunstkosmos ist keine fixierte Größe, sondern behält eine potentiell unendliche Offenheit und Dynamik. Es variiert in immer wieder neuen Abfolgen und Kombinationen. Auch die einzelnen Teile verändern sich je nach ihrer Korrespondenz. Ein offenes Kunstwerk ist damit geschaffen, das sich auch in der Betrachtung nie ganz vollendet, sondern nach Fortsetzung ruft. Nicht zuletzt das macht den Reiz dieser künstlerischen Position aus.

Zur Ausstellung „Personal Structures“ im Kunstturm Rotenburg am 29. November 2014

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