Vom Äusseren des Raumes zu seinem Inneren

Dr. Sven Nommensen

Nachdem sich Debora Kim viele Jahre mit der malerischen bzw. zeichnerischen Darstellung des Raumes auseinander gesetzt hat – einer Herausforderung, der sich die Maler seit der Renaissance immer wieder stellen – , wurde ihr Mitte der 90erjahre bewusst dass sie der dem zweidimensionalen Bildträger verpflichteten, tiefenräumlichen Illusion keine entscheidenden Impulse verleihen kann. Ihre Arbeit kam ins Stocken. Und will man Veränderungen zum Durchbruch verhelfen, scheint es keinen anderen Weg zu geben als den des steinigen einer Krise. So widerfuhr es auch Debora Kim – sie stellte erst die Zeichnung, dann die Malerei als Möglichkeiten zur metaphorischen Visualisierung von Raum infrage.

Auf der Suche nach ästhetischen Formulierungen, die den Raum zu bannen anstrebten, revidierte sie in den Jahren 1996 und 97 zunächst ihre zeichnerische Arbeit. In dieser Phase dominierte der wie unter einem Schleier verhüllte Gegenstand das Blatt. Einem artifiziell und subtil angelegten, sachlichen Entwurf ähnelnd, füllt er den Bildraum aus.  Bar jeder linear – perspektivischen Hilfsmittel gibt er vor, in der Tiefe des Raumes zu schweben. Trotz seiner Präsenz vermag sich das Gegenstandssediment nicht vollständig aus dem sfumato, dem in den Dunst getauchten Hintergrund zu befreien. Der Gegenstand entrückt mithin nicht in die unendliche Ferne, sondern füllt vielmehr mit seiner Erscheinung den Bildraum aus und definiert ihn in vager Bestimmtheit.

In der sich anschlie゚enden Phase der malerischen Annäherung an den Raum verfolgte Debora Kim das gleiche Ziel:  Sie nahm das Prinzip eines schwebenden, subtil in den Bildraum eingefügten Gegenstandes auf , steigerte die Tiefe allerdings in ihrer Nebulösität. Der Gegenstand, nunmehr aus noch tieferen Regionen des Bildraumes auftauchend, hebt sich in nur geringem Masse von der intensiven Farbigkeit der Bildfläche ab: Lediglich eine feine Gegenstandssilhouette bricht de Monochromie.

Eine Krise ist dadurch gekennzeichnet, dass nicht unmittelbar die ersten Lösungen den befreienden Schritt aus der schwierigen Lage bedeuten. Sowohl die Zeichnungen als auch die Malereien versprachen keine langfristigen Perspektiven für neue Formulierungen des Raumes. Sie mögen allerdings eines bewirkt haben: Die Gegenstände durchliefen die Modifizierung bis hin zu Piktogrammen bzw. Silhouetten und schufen damit die Basis für die vollständige Abkehr von der Gegenstandsnachahmung. Darüber hinaus bezweifelte Debora Kim, ob die bislang verwendeten künstlerischen Mittel ihren Intensionen überhaupt Genüge leisten.

Die Entdeckung eines neuen Werkstoffes lieferte die Antwort und bereitete der ungewissen Suche vorerst ein Ende.  Nunmehr rückten Baumwollgarne in den Mittelpunkt der Auseinandersetzung, weil sie eine andersartige Raumkonstruktion in Aussicht stellten. Die Idee kam  nicht von ungefähr. Bereits lange vorher beschäftigte sie sich mit diesem Werkstoff, allerdings ohne konkrete Vorstellungen über Verwendung oder Umsetzung. Auch wenn sie Zeichnung und Malerei nicht ein für alle Mal hinter sich gelassen hat, die Erkenntnis, dass jene traditionellen Mittel einer Modifizierung des Raumes bis auf weiteres nicht angemessen sind, hinterlassen in Debora Kims künftiger Arbeit tiefe Spuren: Die bislang unbestimmten Visionen rücken unvermeidbar in den Vordergrund und gewinnen sukzessiv an Schärfe.

Schnell macht sie nach einigen Versuchen die Erfahrung, dass der Variantenreichtum und die Ausdrucksvielfalt des Garnes unbegrenzt zu sein scheinen. Allein das Vernähen und Verknoten der Fäden auf der Leinwand eröffnet ein breites Spektrum von Möglichkeiten. So ragen in Körper, 1998 (Abb. 12) Garnfäden gleicher Länge, in parallelen Reihen geordnet, aus der Leinwand heraus.

Die sich wie Würmer ringelnden, die Leinwand durchstossenden Fäden lassen den Bereich hinter dem Stoffgewebe nicht unberücksichtigt. Diese Gestaltung stellt die traditionelle Auffassung von der Bildtafel in ihrer Funktion als Oberfläche zur, wie auch immer gearteten, Disposition von Farbe oder anderen Materialien infrage.

Anders als Lucio Fontana, der durch seine Zerstörung der Leinwand dem bis dahin künstlerisch ungenutzten Raum eine atmosphärische Metaphysik zuspricht, füllt sie diesen mit verborgenen Wahrnehmungsschichten. Die sich in Vordergrund entfaltende Bewegung gibt vor, aus der Tiefe zu kommen und die als Membran empfundene Leinwand zu durchdringen, um dann in einer Gegenbewegung wieder den gleichen Weg zurückzulegen. Die variablen Anordnungen und Strukturen auf der Oberfläche lenken somit die Wahrnehmung auf den Bereich hinter den in seiner Funktion neu definierten Bildträger. Und auch vor der Leinwand exponiert sich Raumgrösse: Die wurmartigen Auswüchse scheinen jeden Moment in Bewegung zu geraten und verlangen folglich nach mehr Raum, als sie im Zustand der Ruhe für sich in Anspruch nehmen würden. 

Hingegen sind die in Reihen vernähten Fäden für eine andere Kategorie von Raum verantwortlich: Ob als Geraden parallel verlaufend (KÖRPER, 1999, Abb. 15) oder sich diagonal überkreuzend (KÖRPER, 1999,  Abb. 10), ob sie alternierende Garnstärken in den parallelreihen aufweisen (KÖRPER, 1999,  Abb. 13) oder ob die diagonal über den Bildträger gegliederten Garnlinien durch das Zusammenfügen zweier Bildkörper aufeinander zulaufen (KÖRPER, 1999, Abb. 9) -, in jedem Fall schaffen die Fäden Raum, der sich sowohl hinter als auch vor der Leinwand ausbreitet.  Diesen Varianten fordern weniger die Garne einen tatsächlichen oder virtuellen Raum ab, vielmehr modifizieren sie die weissen Flächen und veranlassen diese, sich im Raum auszudehnen.

Auch hier lässt sich Debora Kims Vorgehensweise mit einem Seitenblick auf Fontanas Schnitte in die Leinwand präzisieren:  Während bei dem in Italien lebenden Argentinier die Verletzungen der Leinwand auf die Leere als Repräsentanz des Unfassbaren und Absoluten hindeuten, schafft Debora Kim einen transparenten, bewegten Raum.  Die schwarzen Garnstrukturen üben unmittelbaren Einfluss auf die Lichtverhältnisse der angrenzenden und darunter liegenden Leinwand aus: Die subtilen Übergänge von Hell nach Dunkel bzw. umgekehrt evozieren eine räumliche Sogwirkung.  Derart in Bewegung gesetzt, schwingen die weissen Flächen zwischen den schwarzen Garnstrukturen zum einen nach vorne, zum anderen nach hinten. Die Reihen – und Gitterstruktur verwandelt die monochrome Oberfläche somit in eine spannungsgeladene, dynamische Membran.

Wenn auch die Wirkung des Lichtes für diese Arbeiten nicht unerheblich und eine Beschäftigung mit der Zero-Bewegung unverkennbar ist, der Begriff, auf den die Grundidee Debora Kims zurückgeht, steht weniger im zusammenhang mit dem Licht als vielmehr mit dem Raum. Im Gegensatz zu Lichtkünstlern wie z.B. Heinz Mack und Otto Piene kommt bei Debora Kim das Material nicht zum Einsatz, um es zu überwinden, im Gegenteil:  die Garne sollen in ihrer vollen und uneingeschränkten Stofflichkeit zum Ausdruck gebracht werden. Die nachdrückliche Herausstellung des Materials als solches kristallisiert sich insbesondere an dem Übergang vom Bild zum Objekt heraus, den das Werk zum Ende der 90er-Jahre nimmt. Die visuell spezifische Bildräumlichkeit als Illusion und Täuschung tritt in dem Moment zurück, wo das Raumempfinden zunehmend durch den Körper an sich und nicht mehr durch eine wie auch immer geartete Struktur evoziert wird. Während bislang die Grundfläche des Bildträgers als Plan für die variationsreichen Garnstrukturen diente, um der räumlichen Illusion Genüge zu leisten, erhalten die umwickelten Bildtafeln gleicher Grösse nunmehr eine neue Funktion: Auch die Kanten des Bildes rücken ins Blickfeld der Aufmerksamkeit, die Tafel beginnt sich als flacher Körper an der Wand zu etablieren.

Zunehmend lösen sich die Bild-Körper von der Wand, die nun allenfalls noch als Möglichkeit genutzt wird, den auf dem Boden stehenden Objekten Halt zu bieten. Vollständig umwickelt, zeigt die Arbeit KÖRPER, 1999 (Abb. 1-3) die Richtung der neuerlichen Entwicklung auf: Die bis dahin dem Betrachter einseitig zugewandte Bildtafel  nähert sich einem von allen Seiten umgehbaren Objekt. Vorzugsweise die 1999 entstandenen Stelen (Abb. 4-8) verleihen der `KÖRPER´- Autonomie ein wiederum stärkeres Gewicht.

Ein Vergleich mit dem Zero-Künstler Heinz mack soll die neuerliche Entwicklung Debora Kims erschliessen helfen.  Weisen die Stelen des Licht-Visionärs in Form und gewissermassen in ihrer Oberflächenstruktur auch eine Ähnlichkeit mit denen von Debora Kim auf, machen die Unterschiedlichkeiten die besonderen Qualitäten ihrer Arbeit deutlich: Bei Mack fungieren die Reliefflächen der Lichtstelen als Resonanzkörper. An ihnen findet das Licht seinen Widerstand und wird in die Sichtbarkeit transformiert. Das Licht wird vor allen Gegenständen, Botschaften und Selbstreflexionen zum einzigen und alleinigen Inhalt der Kunst. (Dieter Honisch über Mack) Hauptsächlich die monochrom umwickelten Stelen Debora Kims verdeutlichen den Unterschied: Anders als beim Zusammenspiel von Leinwand und Garn bzw. bei den durch weisses und schwarzes Garn hervorgerufenen Strukturen wird der Raum nunmehr dadurch evoziert, das dem Material des Garns grössere Autonomie zufällt.

Zwei übereinandergewickelte, verschiedenfarbige Garn-Schichten verleihen den monochromen Oberflächen der Stelen eine mysteriöse Tiefe. Das Zusammenwirken zweier verschiedenfarbiger Garne steigert besonders die chromatische Qualität:  Allein die Farbwerte präsentieren die Materialität in ihrer uneingeschränkten Stofflichkeit.  Weniger ist es die Bewegung auf der Oberfläche, die eine Sogwirkung in den Körper hinein und aus ihm heraus bewirkt, sonder vielmehr sorgt die feine Durchlässigkeit der faserigen Struktur für diese Tiefenwirkung. Das Volumen, ohnehin bereits durch die Quaderform definiert, rührt vom Inneren des Körpers her und scheint über seine Oberfläche hinaus zu strahlen.

Diese Verwendung des Materials verdeutlicht Debora Kims Leistung, dem Baumwollgarn als solchem zum Ausdruck zu verhelfen. Und vornehmlich der Gegensatz zu seiner gewöhnlichen, auf Gebrauch abzielenden Verwendungsmöglichkeit zeigt auf, inwiefern sie dem Baumwollgarn aus Bestandteil des Kunstwerkes zur seiner eigentümlichen Qualität verhilft.

Nach Martin Heidegger wird bei der Anfertigung von `Zeug´, das durch Dienlichkeit und Brauchbarkeit bestimmt ist, `Stoff´ benötigt, wie z.B. Stein oder Farbe. Dieser Stoff wird, so der deutsche Philosoph in „Der Ursprung des Kunstwerkes“, gebraucht und verbraucht: Er verschwindet in der Dienlichkeit.  Der Stoff ist um so besser und geeigneter, je widerstandsloser er im Zeugsein des Zeuges untergeht.  Der Stoff in der Verwendung zur Herstellung eines Kunstwerkes dagegen kommt erst durch das Werk zur vollen Entfaltung. Heidegger führt hierzu aus: Der Fels kommt zum Tragen und Ruhen und wird so erst Fels; die Metalle kommen zum Blitzen und Schimmern, die Farben zum Leuchten, der Ton zum Klingen, das Wort zum Sagen.

In dieser Tradition stehen auch die Arbeiten Debora Kims: Sie versinnbildlichen ein `Werksein´, d.h.., sie erheben einen der Dienlichkeit anheim gegebenen Stoff, das Garn, in einen Kontext, der es ermöglicht, eine Welt zu schaffen. Und insbesondere die monochromen Arbeiten treten den Beweis an, dass sie das Charakteristikum der Einheit erfüllen, die erst dann erreicht ist, wenn das Werk in sich steht und jene geschlossene Ruhe des Aufsichberuhens verkörpert.

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